IX

„Eine kleine Blutfontäne stieß aus Peters Schädelplatte hervor und besprenkelte den weißen Marmorboden.“ Sven tat so, als würde er aus einem Buch vorlesen.
Peter fasste sich hastig an den Kopf und schimpfte: „Lass den Quatsch! Der behinderte Hippie hat mir voll eine verpasst.“
„Entschuldigen Sie bitte die etwas rüde Art von Herrn Hermann“, meldete sich die junge Frau zu Wort, „aber wir befinden uns hier in einem Schweigekloster. Lautstarkes Reden sowie hektische Bewegungen sind untersagt und selbst im Eingangsbereich unerwünscht. Einige unserer Langzeitgäste reagieren dementsprechend ungehalten auf intensive äußere Einflüsse, wie eben Herr Hermann, der Sie für Ihre Entgleisung gerügt hat.“
„Gerügt?“, stammelte Peter ungläubig.
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wir haben Kokoswasser und stilles Wasser mit Elektrolytpulver zur Auswahl.“
„Nein, danke!“, sagte Peter.
„Ich versuch’s mit nem stillen Wasser, ohne Elektro…“
„Das Elektrolytpulver ist nicht optional. Hier bitte. Ich schreibe es auf Ihr Zimmer.“
„Zimmer?“, fragten beide unisono.
„Ja, folgen Sie mir bitte.“

Und so gingen die drei, angeführt von der mysteriösen jungen Frau, den Korridor entlang, vorbei an Skulpturen und Gemälden, von denen eins seltsamer anmutete als das andere. Hin und wieder hielten Peter und Sven inne, um eines dieser Werke näher zu betrachten, so zum Beispiel das Triptychon: Einhorn mit Hut, Einhorn mit Glatze & Einhorn ohne Horn, welches keine Unterschiede zwischen den drei Einzelbildern aufwies, denn auf jedem war ein gewöhnliches Pferd zu sehen. Sie erreichten eine Wendeltreppe, die sie zur zweiten Etage hinaufführte.
„Dies ist der Wandelgang der Inspiration.“, sagte die junge Frau euphorisch, verzichtete aber auf weitere Details. Sven und Peter nahmen sie kaum wahr, denn ein langer Schriftzug an der Wand erhaschte ihre Aufmerksamkeit. Da stand: Müßiggänger aller Länder, vereinigt euch!
„Och!“, murmelte Sven vor sich hin.
„Es ist schon verrückt!“, sagte die junge Frau plötzlich. „Wir sind umgeben von diesen grandiosen Errungenschaften der Technik, aber wissen nicht, wie und warum sie funktionieren. Telefonie, Internet, Motor, Batterie, Radio, Fernsehen, Elektrizität, Atomkraftwerke. Es ist schon erstaunlich, wie wenig wir hinterfragen und als selbstverständlich hinnehmen, oder?“
Peter und Sven nickten zurückhaltend.
„Aber all hat uns hier nicht zu kümmern.“, sagte sie fröhlich. „Herr Schulz entgeht all diesen bedrückenden Fragen durch die totale Hingabe an die Kunst. Aus diesem Grund schuf er dieses Refugium der Künste, in dem alle Warum-Fragen und überhaupt die meisten W-Fragen unbeantwortet, ja sogar ungestellt bleiben. Er entzieht durch die Schönheit und Indifferenz der Kunst jedweder menschlicher Egomanie und allzu rationalen Weltanschauungen die Kraft, zugunsten eines ungezügelten, kreativen Spiels der Sinne. Sie können sich wahrlich glücklich schätzen, den Weg zu unserem Meister gefunden zu haben.“, quietschte sie vergnügt.
„Meister Schulz? Also kein Regent und auch kein Guru…“, staunte Sven, aber niemand reagierte darauf.

An einer weiteren Wendeltreppe ankommend, sagte die Frau: „Hier hoch geht es zu den Zimmern. Sie sind im ‚Glücklichen Hirten‘ untergebracht.“ Sie kamen zum Stehen und sahen neben der Zimmertür einen eingerahmten Spruch:

Glück gestalten und bewahren! Das Glück wohnt nicht mit niederen Zielen, Selbstsucht und Verstimmung unter einem Dach. Es ist ein Freund von Harmonie, Treue, Schönheit, Liebe und Einfachheit. Glück ist eine Folgeerscheinung. Davor kommt stets das, was wir tun und getan haben, kommt stets in der Liebe eben die Liebe und im Leben die Leistung.“ (Schulz)

„Das soll der Schulz gesagt haben“?, fragte Peter nach kurzem Schweigen.
„Nein, der Meister hat sich dieses Zitat einverleibt; das ist künstlerische Freiheit. Ich lasse Sie dann vorerst alleine. Melden Sie sich doch einfach bei Gelegenheit wieder an der Rezeption, sobald Sie sich eingerichtet haben.“ Daraufhin verschwand sie die Wendeltreppe hinunter.
„Einrichten?“, fragte Peter. „Womit denn? Wir haben doch gar nichts dabei.“
Sven guckte Peter freudestrahlend an. „Also mir gefällt es hier.“, sagte er und Peter spürte, dass in diesen merkwürdigen Hallen Kräfte auf seinen gutgläubigen Freund wirkten, die ihn einzunehmen drohten.